Johannes Jetschgo
„Ohne Leiden ist das Leben nicht erfahrbar“

{{Wir fahren im Auto die Serpentinen hoch. Als die Bergwelt Tirols sich noch nicht dem Tourismus verschrieben hatte, besaßen auch August Stimpfls Eltern ein bäuerliches Anwesen. Imst ist umgeben von imposanten Gebirgszügen. August Stimpfl hat sie täglich in seinem Blickfeld. Er wohnt an der Peripherie seines Heimatortes, am „Weinberg", südwärts gerichtet, in einer Sackgasse. Gerne und selbstgewählt. Das Haus hat sein Freund Architekt Norbert Heltschl gebaut, im „Jahr des Staatsvertrags". Es passt sich in Terrassen dem Gebirgsrücken an. Ein Familienhaus, in dem der heute 75 jährige mit seiner Frau Johanna lebt, früher auch mit seinen beiden Töchtern. Oberhalb angebunden ein Atelierhaus. Friedrich Achleitner erwähnt es in seinem Standardwerk „Bauen in Österreich" als beispielhafte Architektur. Es hat nichts an Modernität verloren. Immerhin hatte er damals mit seinem Haus die Giebelordnung der Nachkriegszeit irritiert. Zwei Pultdächer: 1955 löste er damit einen Baustopp aus, ehe er das Domizil gestuft in den Berghang setzen durfte. Der Außenseiter, der doch aus eigenem Entschluss ein Heimkehrer war, nach dem Zweiten Weltkrieg. Der aber ein Einzelner geblieben ist. August Stimpfls Leben ist von Bruchlinien und Umwegen geformt. 1924 wird er in Imst geboren, wie seine Frau, deren Kindheit zur seinen parallel verläuft. Beide hatten dieselbe Taufpatin, „wir steckten im selben Taufkissen" und dennoch war die „alte Bekanntschaft" nach den Jahren der Abwesenheit von zuhause eine „ganz neue" geworden. In den ersten Ehejahren lebt die Familie vom Verdienst Johanna Stimpfls, die als Versandleiterin in einem Betrieb arbeitet. Es war die Zeit, in der ihr Mann erkennen musste, dass das Dritte Reich auch die Öffentlichkeit und das Kulturleben Tirols abgekapselt und verformt hatte. August Stimpfl hatte selbst noch die Moderne kennengelernt. In den dreißiger Jahren besucht er die Kunstgewerbeschule in Innsbruck, angeregt vom Malerleben seines Onkels. Der kleine Ort Imst besitzt damals schon eine von Clemens Holzmeister erbaute Hauptschule. Der Vater ist Kaufmann und hat das Diplom für Geige. Aber gerade der Vater, ein Idealist, wird zeitlebens zum Vexierbild des Sohnes: geachtet in seiner Tragik, unverstanden in seiner Lebenshaltung, die vor allem für die Mutter zum Prüfstein werden sollte. Nicht von ungefähr nennt Stimpfl später die Pieta das „Symbol der Mutter überhaupt". Stimpfls Verwandtschaft taucht damals in die österreichische Zeitgeschichte ein, sie teilt sich in „Illegale"(Nationalsozialisten) und „Österreichtreue". Der Vater allerdings steht gänzlich außerhalb. Er ist seit 1937 Mitglied der Kommunistischen Partei. Die Familie gerät an den Rand des materiellen Ruins, denn der Vater hatte gutgläubig eine Bürgschaft übernommen, wurde dabei geprellt, ging drei Jahre in Haft, während die Mutter Hof und Felder verkaufte, um den Schaden zu ersetzen. Der Richter befindet auf „moralische Schuld", der Vater bleibt ungeachtet der finanziellen Wiedergutmachung als „Krimineller" ausgestoßen. Für den Sohn bleibt eine Verletzung: das Erlebnis vom musischen Vorbild, das an Lebensfremde scheitert, die Vaterfigur geliebt und unterhöhlt in einem. Beim „Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland ist August Stimpfl 14 Jahre alt. Was die Schule vom Stil der Neuen Sachlichkeit vermittelt hatte, geht für den Jugendlichen kaum wahrnehmbar, stilistisch in die Propagandakunst über. Der totalitäre Zugriff wird aber zunächst im Rollenbild spürbar. „Es war verboten in der Kunstgewerbeschule für sich in Anspruch zu nehmen, dass man Künstler werden will. Die Antwort musste heißen: ich liebe das deutsche Malerhandwerk." Stimpfl opponiert und besteht auf seinem „Kunstmaler"-Ziel. Was er hier an „Sturheit" einsetzt, wird anderswo unterlaufen. In der Jugendbewegung erhält der Bub Gelegenheit, als Begünstigter einer NS-Wohlfahrt nach Kassel zu reisen. Der Stolz auf erstes Taschengeld, das die Eltern nicht bieten konnten, der gleitende Übergang in paramilitärische Ausbildung, die Vorbereitung auf eine Soldatenlaufbahn erschienen in der Vergegenwärtigung als perfide Systematik. „Sie schickten mich nur weg, damit ich nicht da bin, wenn sie Papa holen. Ich kaufte in Kassel noch eine Armbanduhr für ihn, als ich heimkam, war er in Schutzhaft. Von dort ging er nach Mauthausen, ein Brief kommt- er sei im Steinbruch gestolpert und habe sich den Kiefer eingeschlagen. Ansonsten nur Ungewissheit. Er war sieben Jahre im KZ, erst in Mauthausen, dann in Dachau." Währenddessen verlebt August Stimpfl seine Zeit im Krieg, als Soldat umgeben von Appellen an Ehrlichkeit und Tugend, beobachtet von einem „Betreuer", der ihm den „Egozentrismus der Familie" auszutreiben sucht. Erst mit 21 Jahren sieht Stimpfl seinen Vater wieder, als dieser zu Fuß begleitet von zwei ehemaligen Rotspanienkämpfern nach Imst zurückkehrt. Als einer der beiden Leidensgenossen des Vaters ihn anherrscht, er solle seine „Offiziershosen" ausziehen, empfindet er es „wie eine Ohrfeige" — „Ich war noch nicht soweit."  August Stimpfl erlebt den Bruch einer Generation, die sich, nachdem das Dritte Reich in sich zusammengebrochen war mit kompromittierten Wertvorstellungen zugleich ertappt und betrogen wiederfand. Dieses Faktum prägt die Entwicklung der folgenden Jahre, die Jahre der Irritation sind. Wenn Stimpfl sagt, in den Kriegsjahren in Russland habe die „Kunst wie eine Monstranz" vor ihm gestanden, so ist das aus heutiger Sicht gesprochen und sagt mehr über die Orientierung der späteren Jahre als über jene Zeit, in der sich sein Stil ausbildete. Die sakrale Metapher, das Trauma des Vaters, die Rolle der Mutter und der Frau, die Skepsis gegenüber jeder Gemeinschaft werden Fixpunkte und Topoi im Werk. So wie er als Zeichner immer wieder Joseph Beuys erwähnt, den „Kriegsteilnehmer und Stuka-Flieger", der nach seinem Absturz schwerverletzt von Tscherkessen gesundgepflegt wird und fortan Butter und Filz in seine Kunst integriert. August Stimpfl nimmt den Faden der Vorkriegsjahre auf und geht an die Akademie nach Wien. Hier trifft er auf Kollegen wie Hundertwasser, Rainer, Avramidis, Fruhmann. Hier holt ihn die Moderne ein. Und er — der Kriegsteilnehmer — blockiert: „Wenn Fruhmann über Michelangelo lästerte, hat mich das aufgebracht". Der in der Kunstgewerbeschule technisch ausgebildete trifft auf Kollegen, die um nur fünf Jahre jünger sind als er selbst, die aber eine andere Generation vertreten, die nicht wie er der „Gehirnwäsche des NS-Systems" ausgesetzt gewesen waren. Der unterschiedliche Erfahrungshorizont lässt zunächst keine Nähe aufkommen. Auch die Lehrer an der Akademie Andersen und Boeckl lösen Widerstand aus. Stimpfl, beeinflusst vom „definitiven Redestil" der totalitären Zeit stößt sich an Boeckl’s Umschreibungen, genauso wie am Rat Andersens beim Abschied nach dem Diplom „Flunkern Sie mehr!". Stimpfl glaubt damals noch an die Machbarkeit von Kunst, wehrte die Idee des Intuitiven ab, reagierte auf diesen Satz wie in einem Schutzreflex: war doch seinem Vater eben das Leichtgläubige zum Verhängnis geworden. Erst als er zurückkehrt in die eng gewordene Tiroler Talschaft und dort spiegelverkehrt „immer mich selbst reden hörte, wenn die etwas gegen die Moderne sagten", erst hier wächst er in ein neues Selbstverständnis, das ihn den Ballast der NS-Ausbildung abstreifen lässt. Sein Gesprächspartner in dieser Zeit ist ein Franziskanerpater, selbst Doktor der Kunstgeschichte, der ihn, der jetzt aus dem Dilemma seines Kunstverständnisses in ein Theologiestudium ausweichen will, zurückholt mit dem Satz des Apostels Paulus „Das, was du tust, tue ganz." Ein Schlüsselerlebnis — erinnert sich August Stimpfl, der seinem Mentor das Verdienst zuschreibt, ihn aus einer ernsten Krise befreit zu haben. Er will nicht „davonlaufen", er beginnt als Dreißigjähriger „Heimkehrer" aus der Akademie, aus dem Krieg — vielleicht aus den Diskussionen mit dem Theologen angeregt — seine Kunstpraxis mit Lektüre zu unterfüttern, sodass uns August Stimpfl heute als ein „pictor doctus" begegnet, dessen Arbeit von einer indivi-duellen Religiosität nicht zu trennen ist. Der Franziskaner Pater Benedikt und Stimpfls Frau Johanna sind in diesen Jahren die bedeutendsten Menschen für den Künstler. Der Hausbau am Weinberg in Imst wird die erste Geste, mit der sich Stimpfl auf Dauer aber auch auf Distanz dem Land seiner Eltern verbindet. Seine Konzentration auf die Landschaft wird in den Bildern sichtbar. „Sie wissen, die Landschaft ist ein lebendes Wesen, wie eine Haut, ein Körper, sehr verletzbar". Als ihn ein prominenter Malerkollege zurechtweist, man könne die Landschaft nicht mit einer Frau vergleichen, antwortet Stimpfl: „Du hast doch auch neun Monate in einer Frau gewohnt". Damit zieht er jenen Horizont auf, der sein „Leibthema" umspannt. Die Frau als Idol, als Leitbild, die Geschichte der Frau als heimlicher, aber überlegener Strom unter der vordergründigen männlichen Geschichte. Es geht hier nicht darum, August Stimpfls Bildinhalte festzumachen. Aber mithilfe seiner eigenen belesenen Argumentation setzt er Schlaglichter. Wenn er formuliert, was die Mystik schon formulierte, dass der „alte Adam" abzulegen sei, so ist das der Anspruch, ein neues Denken mitzuinitiieren. Ein Denken, mit dem er in der heutigen Gesellschaft ohne theologische Ansprüche Ideen der Frauenbewegung ebenso bekräftigen würde wie Ideen der Ökologie. Restaurative Assoziatonen weist er von sich, wenn er in Erinnerung an seine eigene Jugend von einer „Mutterfamilie" spricht. Stimpfl hat gemeinsam mit seiner Tochter Eva eine Ausstellung gestaltet, deren Titel eine Trennung vornimmt: „Studien zum Körper und die Imagination des Leibes". Seine Tochter habe quasi den realistischen Part die „Studien" bestritten, er selbst die Imagination. „Ich vermeide, allzu sehr an der optischen Wirklichkeit hän-genzubleiben, am sklavischen Vorbild. Wenn ich mit einem Modell arbeite, so kehre ich ihm den Rücken zu, sodass ich im Lauf der Zeit immer mehr nach der Vorstellung arbeite. Die Malerei handelt vom Schein als Schein, sie gibt nicht vor, von der Wahrheit zu handeln. Nimmt die Philosophie zu viel Besitz von der Malerei, so wird die Kunst kommentarbedürftig." Bei Stimpfl hält sich die Abstraktion deshalb in Grenzen, umgekehrt tragen seine Figuren keine Gesichtszüge, die Individualität ist zugunsten des kollektiven Wesens ausgelöscht, die Frauenfiguren seien gesichtslos in seinen Darstellungen, aber nicht geschichtslos, sagt der Maler. So arbeitet er an Archetypen, die in Gruppen zusammengefügt werden, „fusioniert" erscheinen, die sich gegenseitig „einverleiben" im Geschlechtsakt, wobei er immer wieder ein Sprachspiel bemüht, indem er „Leiben" als Synonym für „Lieben" verwendet. Stimpfl, der als „gelernter Künstler" schon in seiner Akademiezeit erkannte, dass ihn „das was die Sprache vermittelt so an der Gurgel hat", der als belesener und von Literatur und Philosophie eingenommener Künstler sich erst das „körpernahe Denken" zurückerobern musste, er betont, dass es Mühe kostete, das „Wort Fleisch werden zu lassen" durch die bildende Kunst. Stimpfl sieht sich nicht außerhalb der Tradition österreichischer Kunst, er reflektiert die Körperlichkeit, die im Dritten Reich vielfach auf Rassegründung reduziert erschien, genauso wie die skandalisierte Körperlichkeit mit der sich Egon Schiele konfrontiert sah, oder die Entrüstung über das gesellschaftliche Kopulationsritual im „Reigen" Arthur Schnitzerls. Stimpfls Körperdarstellungen haben einen starken Bezug zum eigenen Ich. Stimpfl sagt: „Wenn man Körper intensiv zeichnet und malt, spürt man, was man zeichnet an sich selbst. Die Ellbogen werden wie bei Maria Lassnig zu einem Werkzeug, für Brus war der Körper die Leinwand. Peter Weibel schreibt: Der Körper trägt den Traum, aber gleichzeitig könnte man sagen: Die Vorstellung von etwas fördert die Ausformung. Das Ungewisse, das Vorläufige spielt bei der Definition des Körpers eine Rolle." Für August Stimpfl sammelt sich die Offenheit seiner Darstellungen (Peter Weibel redet von den konturlosen Figuren, die sich nur aus der Farbe festigen) im mittelalterlichen Spruch, der fragt: „Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich?" Das ist ein archetypisches Lebensalterbild, das sich unentwegt individuell abspult und bei Stimpfl im besonderen die Abgrenzung vom Vater einschließt. Für den Künstler ist es, nach schwerer Herzoperation auch ein persönliches memento mori. Die Körperlichkeit dient der Vergegenwärtigung des Vergänglichen bis hin zum Prozess der Verwesung in Anklang an die barocke Vanitas-Vorstellung. Sie dient aber auch als Medium des Schmerzes, der bei Stimpfl eine leitmotivische Rolle spielt. Ohne Leiden, postuliert der Künstler, ist Leben nicht erfahrbar. Daher ist der Fluch Evas, unter Schmerzen gebären zu müssen der Schritt zum Bewusstsein. Leben ist die Voraussetzung für Bewusstsein. Und die Kunst wird in diesem Sinn Lebensmittel. Der Tiroler Stimpfl verwendet Metaphern, wie sie aus der Mystik des Mittelalters geläufig sind. Sexuelles, Körperliches verschränkt sich mit Erlösungsverheißung. Das Bild vom Himmelsbräutigam nimmt die geschlechtliche Vereinigung, die Hochzeit mit Christus als Erlebnis ersehnter Harmonie. Dabei erreichen seine Darstellungen vom Gekreuzigten eine Radikalität, die traditionelle Frömmigkeit weit hinter sich lässt, genauso weit wie manche geistlichen Lieder der Reformbewegungen des Mittelalters, die sich oft dem Vorwurf des Ketzertums aussetzten. Der Schmerzensmann muss nicht männlich sein, Stimpfl tauscht die Figuren, ersetzt Christus durch eine Frau am Kreuz. So könnte — als Akt gegen die Gewohnheit — Kunst zum Verstehen beitragen. „Glauben" ist in der skeptischen Religiosität Stimpfls keine Kategorie. Er hält sich an Sören Kirkegaard, der am Ende seines Lebens sagt „Du bis der Verursacher meines Leidens, aber ich vertraue Dir". Was nichts anderes heißen kann, als auf der Höhe des Bewusstseins zurückzugewinnen, was ein anderer ungleich leichter im Zustand der Naivität erreicht. Dass die Kirche Mühe hat, sich auf derlei reflektierte Religiosität einzulassen, kritisiert der Künstler. August Stimpfl unterwirft sich einem strikten Tagesablauf. Er begibt sich, und sucht wieder einen Vergleich aus dem Ordensleben, in Klausur. Seine Arbeit umfasst nicht nur das Zeichnen und Malen, sondern auch das Bespannen der Leinwand, die Vorbereitung des Bildträgers. Manchmal nimmt er Musik zu Hilfe, als Stimulans, mit Vorliebe Eric Satie. Seine Signaturen sind der graphische Rest einer lange ausgeübten Tätigkeit als Freskant, als er mit der Maurerkelle an der Wand seinen Namen einzeichnete. Der Schriftzug blieb als Relikt aus der Zeit der Sgrafitti in seiner Malerei erhalten, vielleicht als Relikt des Handwerklichen. August Stimpfl hat sich sein bürgerliches Leben an einem Steilhang errichtet. In seiner Kunst, in seinen Bildern wird das Ausgesetzte deutlich, das er selbst brillant zu interpretieren versteht, wobei er sofort sein Unbehagen artikuliert, dass die Rede den Bildern letztlich unangemessen ist. Als wir das Haus verlassen, gehen wir den Steig hinunter, den er selbst mit Flusskieseln ausgelegt hat.

}}

Stacks Image 487

Informationen: Dr. Angelika Stimpfl