Gert Amann
AUGUST STIMPFL - BAROCKE SINNESFREUDE

{{1994: Ausstellungen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck und im Schloss Maretsch in Bozen durch das Südtiroler Kulturinstitut, in der Galerie Elisabeth und Klaus Thoman in Innsbruck, in der Galerie Welz in Salzburg und in der Galerie Elefant in Hall in Tirol werden das Werk von August Stimpfl dokumentieren. Eine ungewöhnliche Konzentration von Präsentationen! Die Aufeinanderfolge von fünf Ausstellungen ist für August Stimpfl unüblich, aber das Jubiläumsjahr 1994 lässt diese Ballung von Werkschauen berechtigt erscheinen. Am 2. März 1994 wird August Stimpfl 70. Die Demonstration seines künstlerischen Weges ist nicht nur eine Notwendigkeit, sondern den Ausstellungsveranstaltern ein Bedürfnis. August Stimpfl zu präsentieren ist kein Wagnis! Seine überregionale Anerkennung ist ein Garant für die Beachtung auch im eigenen Land. Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum würdigt Werk und Person August Stimpfls in einer Personale, die Rückschau auf 25 Jahre Malerei und Graphik hält, aber auch Einblick in den gegenwärtigen Arbeitspro-zess bietet. Gemälde, Gouachen, Aquarelle und Zeichnungen fügen sich zu einem Konglomerat, das die impulsive Dichte von expressiver, barocker Dynamik im Motiv wie im Malduktus evident werden lässt. Die Auswahl tätigt der Künstler selbst; damit ist die Authentizität der künstlerischen Ambition gewährleistet. Der Ausstel-lungsverantwortliche tritt in der Präsentation bewusst zurück, interpretiert nicht in der Gestaltung, in der Hängung, nicht in der Positionierung des Ausgewählten, sondern nur in der verbalen Vermittlung. Der Autor zieht sich bewusst auf eine zweite, in der Vermittlung untergeordnete Ebene zurück, um der Originalität des Werks unmittelbar zur Wirkung zu verhelfen. Damit ist im allgemeinen nicht vorweggenommen und ausgeschlossen, dass die Präsentation nicht auch Aufgabe —und eine reizvolle dazu — des Ausstellungsverantwortlichen sei. Es darf aber auch der Vermittlungsversuch gerechtfertigt sein, einmal diese hier praktizierte Version zu realisieren. August Stimpfl garantiert eine werkadäquate Präsentation. Daher ist die Ausstellung auch in diesem Bereich kein Wagnis. Es ist vielmehr für den Besucher eine Möglichkeit, in einer unverschlüsselten Art in das malerische und graphische Werk Stimpfls einzudringen. Das Südtiroler Kulturinstitut schließt sich dieser Präsentationsform an und zeichnet mit dem Ferdinandeum für Ausstellung und Katalogherausgabe verantwortlich. Für beide Institutionen ist dieses verwirklichte Projekt wieder einmal mehr Ausdruck der Partnerschaft und gemeinschaftlicher Aktivität. Kristian Sotriffer hat von der „Erkundung des Weiblichen" als einem herausragenden Thema im OEuvre Stimpfls gesprochen, August Stimpfl selbst sieht einen weiteren Bereich, jenen der „Leiblandschaften", als zusätzlich wichtigen Pol; ich meine, man müsste auch die „barocke Sinnesfreude" ansprechen. Zweifellos notiert Stimpfl stets die breite Dimension des Menschseins, die gegenseitig abhängige Existenz von Mann und Frau, vor allem die Dominanz der Frau. Die Spannweite des Körperhaften als gebauter und lebendiger Organismus wird in Bezug zur körperlichen Urform gebracht. Stimpfl erschließt nicht nur den Orga-nismus, er dominiert in der szenischen Prägnanz, im Duktus der schöpferischen Hand, im Kraftakt des Formulierens und Komponierens; auch die davon um-schlossene Mitte, die Seele, wird in unmittelbarer Struktur angesprochen. Wenn er in Achtung vor seiner Mutter, im Respekt vor der Frau schlechthin ein Grundthema seiner Gedankenwelt sieht, so spürt man diese Demut, diese aufrichtige Begegnung mit dem Weiblichen mit einer Inbrunst, die man vielleicht mit der mystischen Sicht des Mittelalters in Analogie setzen kann. Die formale Aussage täuscht in der expressiven und vehement gesetzten Struktur über diese innere Anteilnahme, diese Sorge, diese Zuneigung, diese Demut gegenüber dem Weiblichen hinweg. Die Frau, das Weibliche, wird in einer Komplexität von der Peripherie aus abgetastet, nicht mit den Blicken eines Voyeurs, nicht mit den vibrierenden Fingern der Begierde, wohl aber mit Lust. Die elementaren Fakten im Weiblichen —von Begegnung, Erwartung, Empfängnis, Gebären hin bis zum Exitus — umschließen das Sujet, die Herrscherin, die Gemächtige, die Urmutter sind Bildtitel; Parallelen zu Joseph Beuys' Facettenreichtum von weiblicher Elementarität (Mädchen, Heilige, Prophetinnen, Tierfrauen, Mütter, Leidende, Lachende u. a.) tun sich auf. Bei Stimpfl postiert das Weibliche im Sitzen, Liegen (über- und nebeneinander oder brückenartig gespannt), pompejianischen Körpern gleich geballt, im Kauern und Hocken, im Lagern mit ausgestreckten und angezogenen Beinen, im Gebeugtsein: Positionen, die Stimpfl nicht nur vom formalen Anliegen aufgreift, sondern in eine dem Alltäglichen entrückte Ebene des Geistigen umsetzt. Und dennoch sind diese Sujets keiner Idealisierung geopfert, sondern „Aktionen" (E. Kreuzer-Eccel). Ein Leitsatz für das Werk Stimpfls ist die ihm innewohnende Sehnsucht, die „Wirklichkeit durch das Temperament zu sehen", ein Gedanke aus dem Tagebuch des französischen Malers Delacroix. Diese Sicht der Wirklichkeit offenbart Stimpfl eine Ausdrucksweise des Unverschlüsselten, indem er — wie oben notiert — weitere Ebenen des Sujets erschließt und damit Dimensionen öffnet, die er durch die Titelbeigabe noch unterstreicht. Der Wirklichkeit unterstellt Stimpfl nicht das penetrant naturalistische Formulieren, nicht die kalkulierte Präsenz des uns vertrauten Gegenständlichen, nicht die fotografische abbildhafte Treue. Seine Bildsprache ist markant von der realistischen, impulsiv vorgetragenen Mentalität bestimmt: es ist das Temperament, das die künstlerische Norm bestimmt, denn „Gewohnheit ist tödlich" (A. Stimpfl). Das innere und im Duktus veranschaulichte Temperament ist Vermittler der Sinne, der Philosophie vom Weiblichen, wie es Stimpfl im besonderen Maße äußert. Im bewussten Auftreten gegen die Gewohnheit ist ihm — neben seinem inneren Temperament — auch die Kunst dienlich, ist ihm „Lebens-Mittel", Mittel zum Leben. Leben ist auch Durchdringung von pulsierenden, verdichteten Strukturen, ist auch Eruption, ein Auf- und Durchbrechen, ein Aufreißen und Verletzen von Organismen. Stimpfl setzt gerade diese Dimension des Explosiven in den letzten Jahren verstärkt ein: Es scheint ihm ein Bedürfnis, ja eine zwingende Notwendigkeit zu sein, die ganze Vehemenz des schöpferischen Aktes auf die Auseinandersetzung mit den Ak-tualitäten des Lebens zu konzentrieren. Im gleichen Sinn markiert erscheinen die Landschaften, fern einer naturalistischen Prägung, voller dynamischer Akzente. Analog zu den Körpern der Menschen finden sich hier Landschafts-Körper oder, wie Stimpfl notiert, „Leiblandschaften". Landschaften in Spanien, in der Toskana oder im Waldviertel, Städte wie New York, Venedig, Madrid oder Salamanca sind für ihn nicht nur topographische Situationen, sondern vibrierende Organismen, die im Spiegel der Eindrücke durchscheinen. Sphärenklänge breiten sich aus, tauchen die scheinbar aus dem Lot gefallene Architektur in ein Knäuel von dichter Substanz, binden die tektonischen, graphisch markierten Elemente der Fassaden, der Häuser und Türme wie Augen dem Konglomerat der Körper ein: Gesichter wachsen wie lebendige Binnenzeichen; Landschaften fließen in körperartige Gebilde und Körper in amorphe Natur aus. Die Landschaften stehen im OEuvre nicht abseits, sie sind vielmehr eine bewusste Ergänzung zu den körperhaften Sujets mit dem Schwerpunkt Mensch. In den Landschaften, auch jenen der heimischen Natur mit den Schluchten und Felsmassiven, wird Stimpfls Temperament sichtbar, das von der Mentalität getragen erscheint und damit alle Facetten der individuellen und künstlerischen Impulsivität widerspiegelt. Die Freude am Fabulieren, konkret auf seine Themen bezogen, die Sinnesfreude und die Freude am Leben markieren die-ses Werk. Sinnesfreude, Freude am Leben ausgeformt in einer dichten barocken Bildsprache. Nicht nur mit der Handschrift demonstriert Stimpfl das barocke Formulieren, es ist das „Dionysische" — wer denkt nicht an Rubens —, das ihm die Entscheidung für das Leben, für das diesseitige Leben, für die Lust an diesem Leben bringt. Der stete Versuch der Präsenz, des Sich-Hergebens und Öffnens ist ihm eine Sehnsucht nach barocker, diesseits bejahender Äußerung. Formal setzt Stimpfl Zeichen des Scheinbaren, des Illusionistischen, das sich in der Wirklichkeit relativiert. Deformation wird zur Neuformation. Die Deformation der Norm, des Gegenständlichen, des Alltäglichen wird in barocker Lust neu geregelt: vorerst zerbrochen, geteilt, verschoben, gedehnt und gestaucht, dann in kreativem Akt neu gebildet; darin erwächst nur ein Schein der Wirklichkeit, eine Augentäuschung, die der Betrachter mit seinem Filter der eigenen Sehweise neu kombiniert und zu einem ihm erkennbaren Sujet zusammenschließt. Dieses oft bis ins karikaturhaft bizarre Formulieren erweist den Künstler als einen phantasievollen, der neuen Wirklichkeit verpflichteten, aber doch in einer barocken Lebenslust tätigen Akteur. Man übersieht vielleicht manchmal aufgrund des augenscheinlich fulminanten Duktus und Kolorits den Kampf, den Zwiespalt zwischen Formation und Deformation, die Auseinandersetzung mit der Konstruktion des Körpers, des Volumens, des Umraumes und damit auch des Gesamtsujets. Bedeutende Künstler notieren immer wieder ihre Bezugspunkte, ihre Herkunft, ihre Vorbilder, schlechthin die Orientierung für den Arbeitsprozess und die künstlerische Entwicklung; sie verschleiern nicht die Eindrücke, die aufgegriffen und verarbeitet werden, sie leugnen nicht die Faszination, die vom Werk anderer Künstler ausströmt, die sie aufsaugen und inhalieren. Es gibt immer wieder fixe Positionen der Standortbestimmung, Begrenzungslinien zum Maßnehmen, zum Abwägen, zur Kontrolle. Für August Stimpfl sind Künstler wie Robert C. Andersen und Herbert Boeckl nicht Vorbilder, sondern Lehrer, Alberto Giacometti und Francis Bacon Orientierungspunkte, aber auch Paolo Uccello mit dem geschlossenen Volumen seiner gemalten Körper ist ihm im Blickfeld. Die Kunstdoktrin des Dritten Reiches hatte eine für Stimpfl „falsche Erziehung in der Kunst" eingebracht. Mit diesem Reglement war Stimpfl — vierzehn-jährig — konfrontiert. 1948 an der Akademie in Wien war das erste, selbst gewachsene Bedürfnis, diese ohne Diskussionsmöglichkeit aufgezwungene Sehwei-se zu überwinden. Für Stimpfl bot sich dieser Prozess weniger über die Literatur, sondern vielmehr über das Schauen, das Betrachten, also über die Bildsprache des Neuen. Die Begegnung mit Herbert Boeckl und Robert C. Andersen an der Akademie war vorerst die entscheidende Wende. Die Grundzüge des Formengutes beider Akademielehrer haben sich noch weit in das Werk Stimpfls tradiert. Andersen sah die menschliche Figuration stets in einer strengen, kalkulierten Konstruktion — Boeckl manifestierte sich in der Emotion, in der Stofflichkeit, in der Empfindung. Stimpfls Werk ist lange noch von dieser Gegensätzlichkeit des Statischen und Emotionellen geprägt. Immer aufs neue dringt die Erinnerung an diese beiden Pole ans Tageslicht, nicht nur in der Diskussion, auch im Werk. Darin markiert Stimpfl auch die stete Reibung zwischen der konstruktiven, auf Statik aufgebauten Struktur und der Deformation. Deformation ist aber Neuformung und keine Dekadenz des Gegenständlichen. Zwischen beide Positionen drängt sich einschneidend das Stimpfl beeindruckende Werk von Francis Bacon: Bacons Akte, expressiv deformiert, zerschunden bis zur Schmerzgrenze, eingebunden einem intakten und meist vom Geschehen unberührten Raum, zelebriert auf Liegen, Podesten und Raumkörpern. Die impulsive Gestik, der vehement und spontan gesetzte und gezogene Strich sind Maßstäbe für Stimpfl, die er in seiner ihm eigenen Sensibilität umformt und niederschreibt. Stimpfl spannt seine Figuren in den meist tonig maleri-schen Raum ein, umgibt sie mit einer Lebenshülle, lässt Klangfarben über den Bildausschnitt vernetzt lagern. Bacons Vorstellungen seiner Bilderwelt liegen auch jenen Stimpfls zugrunde: „Ich möchte, dass meine Bilder aussehen, als ob sich ein menschliches Wesen wie eine Schnecke zwischen ihnen hindurchgeschoben und dabei eine Spur von menschlicher Gegenwart und von Erinnerungen an vergangene Ereignisse zurückgelassen hätte, wie eben auch eine Schnecke ihre Schleimspuren hinterlässt. Ich glaube, das ganze Verfahren dieser besonderen verwischenden Formgebung hängt von der Ausführung des Details ab; davon, wie die Formen neu aufgebaut oder leicht aus dem Brennpunkt gerückt werden, damit auch ihre Erinnerungsspuren erkennbar sind." In Stimpfls Werk ist diese empfindsame Erinnerung evident, auch die Vernetzung der Figur in den Beziehungspolen ihrer Existenz. Analogien zum Spanier Antonio Saura sind hier zu notieren. Die Vibration im emotionellen Formen wird in der letzten Phase seines Werkes dominant, das Kolorit ist in seiner Schwere kontrastreich, die Pinselführung vehement durchgezogen und nicht verspielt eingesetzt. Farb- und Formeruptionen gleich sind die Bildwerke existent. Im Landschaftbild hingegen herrscht mehr das konstruktive Element vor. Diese Bipolarität ist markant für das OEuvre Stimpfls der letzten Jahre. August Stimpfl hat sich nach seinem Abgang von der Wiener Akademie 1951 nach Imst ins Tiroler Oberland zurückgezogen und blieb diesem Kulturraum treu. Eines der ersten großen Werke in der Öffentlichkeit war 1956 die Ausmalung der Michaelskapelle in Imst, zusammen mit seinen Malerkollegen Elmar Kopp, Andreas Weißenbach und Herbert Wachter, heute ein malerisches Dokument der Freskokunst, in der sich der österreichische Nachexpressionismus deutlich manife-stiert. Von Seccowandbildern in Pettneu (1957) über Keramikarbeiten in Bludenz und Innsbruck, über Glasgemälde in Imst und Landeck bis hin zu seinen Wand-malereien in Imst, Elbigenalp und Telfs reicht das Spektrum seiner Kreativität. Seine Kunst wird darin zu einem festen Bestandteil der Kunstsprache Tirols nach 1945. Seine überregionale Präsenz und damit auch Anerkennung boten die Ausstellungen u. a. in Wien, Salzburg, Zürich, Bremen, Pforzheim, Stuttgart, Bayreuth, Basel, St. Gallen, Bregenz. Kristian Sotriffer hat seinen Beitrag über August Stimpfl 1989 mit dem Titel „Eine Form des Staunens" einbegleitet. Die Ausstellungen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck und im Schloss Maretsch in Bozen mögen dem Betrachter eine „Welt des Staunens" öffnen sowie eine Ein- und Innenschau gewähren, die über das Spezielle der Thematik des „Weiblichen" und der „Leiblandschaften" hinausreicht: eine Einschau in die gedanklich und malerisch notierte Ideenwelt des Künstlers und eine Innenschau in der Reflexion auf die eigene Position der Erinnerungen. In der Symbiose beider Blickrichtungen erstrahlt eine faszinierende, die Empfindung bewegende Sphäre des Staunens und tiefen Erlebens.

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Informationen: Dr. Angelika Stimpfl